Rezension von Rene Martens zum Film von Rasmus Gerlach


21. Dezember 2013, Hamburg,  Schanzenviertel: Eine Demonstration, die für den Erhalt der Roten Flora, für den Erhalt der Esso-Häuser auf dem Kiez und für Solidarität mit den Lampedusa-Flüchtlingen eintritt, endet praktisch schon, bevor sie richtig beginnen kann, weil die Polizei den Aufzug gewaltsam stoppt. Danach bricht auch auf der anderen Seite Gewalt aus, es kommt zu einer Straßenschlacht.


Mit Bildern von diesem Tag beginnt Rasmus Gerlachs Dokumentarfilmessay „Gefahrengebiete, Gipfel & andere Hamburgensien“. Der Regisseur hat für diesen Einstieg einen Beitrag des türkischen Senders TRT ausgewählt, der eine drastische Außenperspektive liefert und den Eindruck erweckt, die gesamte Republik habe sich rund um Weihnachten 2013 im Ausnahmezustand befunden.


Die Demonstration am letzten Advents-Wochenende 2013 war - auch - eine Reaktion auf die wenige Tage zuvor stattfindende Räumung der Esso-Häuser, die im April 2014 schließlich abgerissen wurden. Eine stichhaltige Begründung für die Räumung der in den 1960er Jahren erbauten Häuser gibt es - das macht der Film klar - bis heute nicht. Die letzten Monate dieses umkämpften Gebäudekomplexes spielen eine wichtige Rolle in „Gefahrengebiete, Gipfel & andere Hamburgensien“. Die Zuschauer bekommen einen Eindruck davon, was das für Menschen sind, die für den Investor Bayerische Hausbau arbeiten, und sie lernen Ex-Bewohner und andere Aktivisten kennen, die bis zum Schluss für „ihre“ Häuser kämpfen.


Der andere Schwerpunkt des Films ist die Auseinandersetzung um die Gefahrengebiete, die die Hamburger Polizei für einige Tage im Januar 2014 einrichtete - zusätzlich zu den dauerhaften Sonderrechtsszonen St. Pauli und Altona-Altstadt waren nun auch das Schanzenviertel und Teile von Altona-Nord von dieser Regelung betroffen. Gerlach vermittelt uns ein Bild von den fantasievollen, teilweise spontanen Protesten gegen die Gefahrengebiete. Eingebettet in die Dokumentation all dieser Vorgänge sind Reflektionen über die Ökonomisierung des innenstädtischen Lebens, über eine Stadt, für die Stadtplanung von Unternehmen bestimmen lässt.


„Gefahrengebiete, Gipfel & andere Hamburgensien“ ist ein mehrbödiger Film: Die Bilder von TRT spielen an verschiedenen Stellen eine Rolle. Stichwort: Wir bekommen mit, wie die Welt - zumindest ein kleiner Teil der Welt - damals Hamburg wahrgenommen hat. Teil dieser Außenperspektive ist aber immer auch, so widersprüchlich das klingen mag, eine Innenperspektive. TRT hat um den Jahreswechsel 2013/14 zahlreiche Stadtteil-Aktivisten interviewt  - und Gerlach wiederum hat diese Gespräche gefilmt. Er selbst wird auch interviewt vom türkischen Sender. Die interviewten „Experten“ - im Fernsehen jedenfalls würde man sie so nennen - schildern die Vorgänge so, dass sie auch für Nicht-Hamburger verständlich wird. Außerdem lässt Gerlachs Film, teilweise, Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen, indem er  Performances dokumentiert, die eine Demonstration inclusive Polizeieinsatz nachspielen.


Der Regisseur ist in mehrerer Hinsicht Akteur des Films: Er ist selbst betroffen von der Gentrifizierung und der Vertreibung, die er beschreibt. Seine alte Wohnung wird saniert, Gerlach muss ausziehen. Er schildert, was er kurz vor dem Auszug wieder findet. Die Aufräumarbeiten in der alten Wohnung führen zu verschiedenen Nebensträngen: Gerlach rettet zum Beispiel eine Spule, mit der wird in der Kleinen Freiheit No. 3, einer Kiezkneipe im Gefahrengebiet, ein Filmabend veranstaltet. Es läuft Klaus Wildenhahns Dokumentarfilm „Der Hamburger Aufstand von 1923“. Über den Begriff „Aufstand“ führt dieser Film von 1971 gewissermaßen zurück in die Jetztzeit - auch wenn der Aufstand der Gentrifizierungs- und Gefahrengebietsgegner, anders als der der Kommunisten 1923, nur mit  Klobürsten als Waffen auskommt.

v.l.n.r. Oliver Teetz, Thomas Wüppesahl und Rasmus Gerlach